Schon ein schiefer Zahn kann Tinnitus verursachen
Von Christian Schlieker
Zahnbeschwerden gehören zu den am meisten unterschätzten Ursachen für viele Krankheitsbilder. So können schon kleinste Zahnfehlstellungen zu Schwindel, Kopfschmerzen, Ohrenrauschen oder Wirbelsäulenproblemen führen. Für medipresse erklärt der CMD-Spezialist Dr. med. dent. Jochen H. Schmidt wie unsere Zähne den gesamten Organismus beeinflussen.
Herr Dr. Schmidt, weshalb können schiefe Zähne beispielsweise Rückenschmerzen verursachen?
Dr. Schmidt: Der Kiefer ist über Muskeln und Nerven mit der Wirbelsäule verbunden. Bei einem gesunden Gebiss werden die Zähne normalerweise beim Kauen senkrecht belastet. Dies führt zu einer gleichmäßigen Belastung des Kiefers, weil jeder Zahn einen Kontakt zum Gegenzahn hat. Wenn nun aber eine Fehlstellung der Zähne vorliegt, ein Zahn ausfällt oder ein Zahnersatz schlecht sitzt, funktioniert der Gegenkontakt der Zähne nicht optimal. Die Muskulatur des Kauapparates versucht dann, dieses Ungleichgewicht auszugleichen, wodurch diese sowie Nacken- und Rückenmuskulatur auf Dauer verkrampfen. Der Mediziner spricht in diesen Fällen von einer Cranio-Mandibulären Dysfunktion, kurz CMD.
Gibt es neben Rückenschmerzen weitere typische Symptome einer CMD-Erkrankung?
Dr. Schmidt: Eine CMD kann sich bei jedem Menschen ganz unterschiedlich auswirken. Durch die Fehlstellung der Zähne ist eine Verkürzung der Kaumuskulatur möglich, die wiederum Auswirkungen auf die Wirbelsäule haben und zu ihrer Verdrehung führen kann. Außerdem können Kopf-, Zahn-, Nacken-, Ohren- oder Gelenkschmerzen sowie Schwindel und Tinnitus hervorgerufen werden. Der Grund: Die Weisheitszähne sind über ein feines Nervengeflecht mit unseren Ohren verbunden. Häufig wiederkehrendes Ohrensausen kann demnach auf den Zustand der Weisheitszähne zurückgeführt werden (18, 28, 38, 48, siehe Grafik; d. Red.). Aber auch eine eingeschränkte Unterkieferbeweglichkeit oder Blockierungen der Halswirbelsäule sind möglich.
Wie viele CMD-Betroffene gibt es?
Dr. Schmidt: Schätzungsweise leiden ca. 10 Prozent der Deutschen unter diesen Symptomen. Im Vergleich zu Männern sind übrigens Frauen ca. sechsmal so häufig davon betroffen. Psycho-soziale Faktoren scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Über die Bedeutung hormoneller und genetischer Faktoren oder die erhöhte Sensibilität auf mechanische Reize wird in Fachkreisen noch diskutiert.
Wie kann man eine CMD feststellen?
Dr. Schmidt: Eine CMD lässt sich durch eine Funktionsdiagnostik des Kiefergelenks erkennen. Doch in vielen Fällen erweist sich die Diagnose als größtes Problem, weil von Kopf- oder Rückenschmerzen geplagte Patienten nahe liegender Weise erst einmal den Allgemeinarzt oder Orthopäden aufsuchen. Diese Ärzte beschäftigen sich aber normalerweise nur bedingt mit CMD. Oft klärt sich dieses Krankheitsbild erst beim Zahnarztbesuch.
Und was geschieht dann?
Dr. Schmidt: Steht der Befund fest, ist es wichtig, dass man im Gespräch mit dem Patienten dessen Krankheitsvorgeschichte und andere körperliche Beeinträchtigungen analysiert, um eventuelle Zusammenhänge zu erkennen. Darüber hinaus sind eine somatische Untersuchung von Kaumuskulatur, Kieferöffnung und -gelenken sowie ein Belastungstest erforderlich, um den Behandlungsbedarf festzustellen. Da es sich bei der CMD um eine Wechselwirkung verschiedener Körperregionen handelt, ist es für einen einzigen Arzt schwierig, eine richtige Diagnose zu erstellen und den Betroffenen zu therapieren. Wichtig ist das interdisziplinäre Zusammenwirken von HNO-Ärzten, Internisten, Orthopäden, Physiotherapeuten und anderen Spezialisten.
Was kann der Zahnarzt gegen die Beschwerden un?
Dr. Schmidt: Je nach Schweregrad der Erkrankung wird die Therapie individuell auf den Patienten abgestimmt. Abhilfe kann eine Aufbissschiene aus Kunststoff bringen, die in der richtigen Kieferposition die Fehlstellung der Zähne ausgleicht und den Patienten auch vor Zähneknirschen schützt. So kommt es zu einer Entlastung der Kiefergelenke und die Kau- und Kopfmuskulatur wird entspannt. Oft bedarf es parallel dazu auch einer Physiotherapie, um Schmerzen im Rücken oder Nacken gezielt zu lindern.
Gibt es wirksame Maßnahmen, um einer CMD vorzubeugen?
Dr. Schmidt: Das kommt ganz darauf an. Ist die Ursache eine lange zurückliegende Fehlstellung der Zähne oder ein plötzlicher Zahnverlust, so hilft nur die Therapie. Andere Auslöser hingegen kann man durchaus vermeiden. Ein Beispiel dafür: Mithilfe eines 3D-Röntgengeräts nehmen wir die exakten Koordinaten des Kiefers auf und können so ausschließen, dass es aufgrund eines Implantats später zu einer Unausgeglichenheit im Mundraum kommt.
Was hilft noch?
Dr. Schmidt: Generell lässt sich sagen, dass es immer ratsam ist, vor dem Einsetzen von Kronen, Brücken oder Zahnersatz, das Kausystem des Patienten zu überprüfen und so eventuellen Fehlstellungen vorzubeugen. Ein weiterer Auslöser kann Stress sein. Was viele nicht wissen: Stressabbau findet nachts durch das Zähneknirschen statt. Auch dadurch kommt es zu Muskelverspannungen. Stressvermeidung hat also auch diesbezüglich einen hohen Stellenwert.